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Abschied für zwei Jahre – und die geheime Ersatz-Bibliothek

Abschied für zwei Jahre – und die geheime Ersatz-Bibliothek

Meine geliebte Bibliothek am See schließt für zwei Jahre. Aber wohin bringe ich die ausgeliehenen Bücher? Es bleibt bis zum Schluss ein Geheimnis. Ich nehme Abschied.

Ein letzter Besuch meiner geliebten Bibliothek am See, am Schäfersee in Berlin-Reinickendorf. Sie ist ein bisschen in die Jahre gekommen, dennoch oder gerade deshalb ein guter Ort. Im Sommer konnte man in einem kleinen Garten auf Liegestühlen sitzen, die inmitten von hochgewachsenem Gras standen. Meistens war man dort alleine, weil kaum einer von dem kleinen Paradies wusste.

Nun schließt diese kleine Insel für zwei Jahre. „Mindestens würde ich mal sagen“, meint die Mitarbeiterin. „Sie soll energetisch saniert werden. Man kennt das doch. Zwei Jahre wird gesagt und dann werden es ganz schnell …“ Sie beißt sich auf die Lippe. Ihr Kollege sieht sie von der Seite an. „Meinen Sie, sie wird abgerissen?“ „Das denke ich nicht. Da ist irgendwas mit Denkmalschutz.“ Die Bücher, die man jetzt, in den letzten Tagen, ausleiht, müssen erst am 4.Oktober zurückgebracht werden. „Aber wohin denn?“ „Es wird eine Ausweichstelle geben, voraussichtlich ab Oktober.“ „Und wo?“ „Das dürfen wir noch nicht sagen.“ „Warum nicht?“ „Das wird dann bekanntgegeben.“ „Und wo wird es bekanntgegeben.“ „Es steht dann dran oder Sie erfahren es auf anderem Weg.“

Eine ältere Frau fragt nach. „Aber ich muss doch wissen, wo ich die Bücher hinbringen soll. Ob ich dann den Bus nehmen muss?“ „Wir können es Ihnen nicht sagen. Nur so viel, es wird nicht weit weg von hier sein, fußläufig zu erreichen.“ „Aber in welche Richtung“, bohrt sie. Der Bibliothekar kommt hinzu. „Hier runter, in diese Richtung.“ Er zeigt es mit der Hand.

 „Ach, das ist so schade“, sage ich. „Was wird es denn für eine Art Bibliothek sein?“, fragt die ältere Frau noch einmal. „Nicht allzu groß, schätze ich“, sagt die Bibliotheksmitarbeiterin durch die türkisfarbene Maske und sieht in die Augen des Bibliothekars. „Wissen sie es wirklich nicht?“, schaltet sich mein Kind nun ein. „Ich glaube, sie ahnen etwas und dürfen es nicht sagen“, erkläre ich.  „Aber warum?“

Die Frau hinter dem Tresen guckt uns an. Ich glaube, sie würde gern etwas verraten, hat allerdings schon wesentlich mehr als sie eigentlich wollte, durfte oder konnte…

„Es ist wohl alles ein großes Geheimnis“, sage ich. „Vielleicht ist es ein ganz schöner Ort“, meint der Junge. „Oder eben kein schöner, vielleicht nur ein kleiner Bauwagen oder ein Hinterzimmer.“ 

Ich gehe also mit schwerem Herz durch die Gänge. „Mach mal noch ein Video oder ein paar Bilder für mein Tagebuch, wie ich hier in meiner Lieblingsbibliothek herumschleiche.“ Ich drücke dem kleinen Jungen das Telefon in die Hand. Er filmt auf seine Weise, nur meine Füße, wie sie über den grauen Teppich gehen. Na, was soll´s. In diesem Moment der Traurigkeit kommt mir selbst der graue Teppich vor, wie der beste Bibliotheksteppich, über den ich jemals gelaufen bin.

Und wenn es gar keine Ersatz-Bibliothek gibt? Wenn sie einfach nichts sagen, damit man sich nicht ärgert. Hatte die Frau nicht erwähnt, dass man die Bücher dann auch in den anderen Bibliotheken abgeben kann?

Noch ein Tag bis zur Schließung. Ich werde noch einmal kommen und mich für eine halbe Stunde in den wildwuchernden Bibliotheksgarten setzen. Hier hätte ich ein Buch schreiben, einen guten Gedanken haben können, ein Rendezvous, ein geheimes Treffen. Nichts davon ist passiert.

Ich nehme mir ein paar Bücher mit. Ich kann mir jetzt mit dem Lesen viel Zeit lassen. Bis zum 4.Oktober, dann bringe ich die ausgeliehenen Dinge an einen geheimen Ort, von dem ich noch lange nicht wissen darf, wo er sein wird.

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© 2020 Katja Schrader

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