Sommer ohne Meer geht nicht. Die Suche nach einem bezahlbaren Zimmer an der Ostsee erschöpft mich. Lütten Klein ist die Rettung. Das Gästehaus war mal Arbeiterwohnheim. Es steht zwischen modernisierten Plattenbauten. In Etage Sieben findet sich noch ein Zimmer für mich und meinen kleinen Jungen.
Und da sitze ich nun und sehe aus dem Fenster. Hier lebt man ein bisschen in den Wolken und sieht auf eines der großen Häuser. Es ist laut, die Autos rasen, ein Schlenker-Bus hält jede halbe Stunde, die Feuerwehr rückt aus. Und dann fliegt wieder eine Möwe vorbei und schreit mir zu. „Irgendwo hinter den Häusern ist das Meer.“
Ich liebe die Mischung aus Meeresbrise und DDR-Charme, Verbundenheit durch die persönliche Vergangenheit und absoluter Fremdheit. Soziologe Steffen Mau, der in den Siebzigern hier aufwuchs, hat das Buch „Lütten Klein- Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“ geschrieben. Ich besorg es mir mal.
Ich zähle die Fenster. Es sind 384. Jedes Fenster eine Geschichte oder mehrere. Man könnte jeden Tag eine erzählen, überall mal klingeln, von unten links angefangen. Das würde länger als ein Jahr dauern. Ich hätte Lust dazu. „Guten Tag, was macht sie glücklich? Erzählen Sie mal!“
An einem Fenster bräunt sich ein Mann den Rücken. Weiter links schüttelt jemand sein Badehandtuch gewissenhaft aus. Dann klopft er die Latschen gegeneinander. Der Sand rieselt nach unten, vielleicht ein wenig in das geöffnete Fenster in der Etage tiefer. Weiter links lehnt sich eine alte Frau, bequem mit der Brust auf dem Kissen aus dem Fenster. Sie guckt rüber. „Was macht die da, in dem Hotel?“, denkt sie vielleicht. Es ist zu weit weg, um ihr zuzuwinken.